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Ich bin bedürftig



Ich bin bedürftig.


Sagen wir diesen Satz zu uns selbst und fühlen in uns hinein, dann kommen wir mit unserem Schamgefühl in Kontakt. Scham, die als letzte Maske unsere Hilflosigkeit und Bedürftigkeit als Kind überdeckt. Die Maske der Scham wird zu unserem Begleiter im Leben und es bilden sich Rollen aus, die das überspielen, was uns im Innersten verletzt hat. Wir spielen selbstsicher, souverän und taff oder eben unentschlossen, unnahbar, distanziert. Manchmal spielen wir diese Rollen so gut, dass wir selbst denken, dass wir diese Rollen sind. Wir übersehen dann, dass wir eine unbewusste Rolle eingenommen haben, die so eng wie ein Latexanzug auf unserer echten Haut liegt und unsere nackte Haut täuschend echt nachbildet. Wir glauben irgendwann, unser künstlicher Anzug wäre unser authentischer Ausdruck.


Erkennen wir nicht, dass wir aus einer Rolle heraus leben, dann kann keine echte Fülle in uns aufsteigen. Es bleibt ein Mangelbewusstsein, da unser ureigener Ausdruck abgeschnitten bleibt. Wir können augenscheinlich authentisch auftreten und damit bestimmt viele Menschen und auch uns selbst täuschen. Bleiben wir in diesem Mangelbewusstsein der Pseudo-Echtheit, dann müssen wir anderen Menschen unbewusst Energie abziehen. Wir können nicht in vollem Maß authentisch kommunizieren. Wir reden zu viel Unwesentliches und merken nicht, dass wir damit die Aufmerksamkeit des Gegenüber binden und damit die Energie abziehen. Wir machen keine Pausen beim Sprechen und Ersticken unseren Gegenüber mit marode konstruierten Inhalten, bis er in Gedanken seinen Einkaufszettel durchgeht. Wir tarnen uns als Erklärer und Lehrer, damit auf keinen Fall gesehen wird, dass unsere Kommunikation eine versteckte Bedürftigkeit aus einem Mangel heraus ist.


Oder wir tarnen uns als Opfer, das nicht verstanden wird, dem keiner zuhört oder dem es nicht gut geht, weil dies oder jenes wieder passiert ist. Wir schleichen uns in die Passivität im Deckmantel des scheinbar interessierten Zuhörers, um nichts Intimes von uns preiszugeben. Beide Tarnungen möchten unsere Wunde verschleiern: Die Bedürftigkeit unter der Scham. Die belanglose Kommunikation wird zur Normalität, wenn wir keinen Zugang zu unserer echten, ureigenen Quelle haben. Kommunikation wird zu einem Aufmerksamkeitskrieg und wir betreiben, ob wir es wissen oder nicht, energetischen Missbrauch, solange der Panzer der Scham aktiv bleibt.

In die Scham gehen verursacht im ersten Reflex eine explosive Abwehrreaktion. Das ist berechtigt, denn wenn wir im Moment, als wir unsere intime Lebendigkeit zeigen wollten, beschämt wurden, musste diese reflexartig abgespalten werden. Sie wurde unbewusst im frühkindlichen Stadium mit dem Gefühl der “Falschheit” verknüpft, bis wir denken, dass wir falsch SIND. Das ist dann ein fataler Rückschluss, der sich tief im Körper abspeichert. Der Rückschluss bleibt oft unbewusst, sodass wir uns innerlich leer fühlen, Widerstände gegenüber dem Leben haben oder uns gar selbst eklig finden. Flow kann sich nicht einstellen in uns. Wir sind abgeschnitten vom Leben, solange wir abgeschnitten sind von unserem vitalen Kern. Es war ja alles gut in der Kindheit. Ich wurde ja nicht missbraucht. Sind Erklärungsmodelle des Verstandes, die unsere toxische Scham schönreden wollen.

Wir fangen an zu kompensieren, zu flüchten in Scheinwelten, spirituelle Sphären oder Suchtverhalten, um ja nicht dieses vernichtende Gefühl der Verlorenheit zu fühlen. Jene Verlorenheit, die durch den falschen Rückschluss entsteht, es nicht Wert zu sein. Die Verlorenheit quält und vergiftet schleichend. Uns selbst und auch unsere Mitmenschen. Bis wir entscheiden, uns bewusst der Scham hinzugeben. Bis wir den Mut haben, dahin zu gehen, was uns im Innersten verletzt hat. Dazu braucht es Geduld und Aufrichtigkeit. Es ist der Weg in die Selbstliebe.

Diese innere Leere und Gefühllosigkeit haben mich rund 20 Jahre begleitet und ich habe jetzt seit langem wieder Momente, in denen ich Wärme, Fülle und Angebundenheit fühle. Dazu musste ich mir aber zunächst eingestehen: Ich bin bedürftig.


Kann ich diesen Satz voll fühlen und halten, ohne dass mich die toxische Scham explosionsartig in die Dissoziation katapultiert, dann löst sich was. Es löst sich der falsche Rückschluss, falsch zu sein. Erst wenn ich die Wahrheit hinter dem Satz erkenne und anerkenne, kann er sich lösen. Eine Erkenntnis, die meinen Körper ganzheitlich löst und keine Pseudo-Erkenntnis, die als weiteres mentales Konzept über meiner Scham implementiert wird. Gnade durch echte innere Aussöhnung darf geschehen. Was sich dann auch löst, ist ein Meer an Lebendigkeit, Kreativität und explosiver, verspielter Einzigartigkeit. Unter meinem Latexanzug liegt der nackte Ausdruck meines Wesens. Der ist echt.


Erst nach dem liebevollen Durchdringen der toxischen Scham, können wir etwas Wesentliches und Echtes mitteilen. Die Kommunikation inspiriert, hält wach und ist nährend, weil sie aus unserer innersten Quelle kommt. Wir schenken Aufmerksamkeit, anstatt sie versteckt einzufordern. Wir kommunizieren dann aus der Fülle heraus, nicht aus dem Mangel. Kommunikation macht dann Freude, ist spielerisch, kreativ und leicht. Wie ein Tanz losgelöst vom Korsett des funktionalen Gefallenwollens. Mit unserer Anbindung berühren wir uns selbst und können dadurch auch Andere berühren. Es ist der Weg, den jeder für sich geht, so wie ich ihn auch noch jeden Tag gehe. Echte Kommunikation ist Handwerk und führt in die in Kunst durch Übung, Verletzlichkeit und Hingabe. In einer Welt, in der überwiegend durch Rollen kommuniziert wird, kann ich dann auch bewusst eine Rolle annehmen und mit ihr spielen. Momentan habe ich einen Alpaka-Pulli an. Der ist weicher als Latex.


- Intim werden mit Latex ist ein Spiegel des kollektiven simulierten Kontaktes hervorgegangen durch den mangelnden echten und mitfühlenden Kontakt der Eltern zum Kind im Moment, wo das Leben sich zeigen wollte.

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